Avanti Dilettanti!

Das durch Atamari initiierte und maßgeblich organisierte Pissarro-Wochenende in Wuppertal ist jetzt eine Woche her, mein Husten hat sich einigermaßen verzogen und ich kann uns nicht ersparen, einige persönliche Gedanken dazu zu notieren.

Im Vorfeld gab es ja eine Reihe von Kritikern, die Qualitätsmängel befürchteten, wenn man sich für ein Wochenende, von Vorkenntnissen unbeleckt, das Schreiben von Artikeln zur Kunst vornähme. Kann man machen, war zum Teil inhaltlich begründet, wenn auch nicht immer im Tonfall, und offenbar gehört es heute auch zur Folklore, daß ein schönes Projekt erst mal durchs Diskussionsfeuer muß, bevor es loslegen darf. Das hatte sich halbwegs beruhigt, alle freuten sich auf ein produktives Wochenende, aber wir mußten schließlich doch auf die eine oder andere Person, die wir gerne wegen ihrer Fachkenntnis dabeigehabt hätten, verzichten. Letztlich hat die Qualitätsdiskussion jedoch einige von uns sicher zu ganz besonderem Ehrgeiz – „jetzt erst recht!“ – angestachelt.

Wuppertal oder Montfoucault?

Ich kam morgens etwas zu spät ins winterliche Wuppertal und stieß – noch vor der offiziellen Begrüßung – auf eine bereits hochkonzentrierte Community in der Bibliothek des Von-der-Heydt-Museums. Ein umfangreicher Pissarro-Handapparat stand in der Ecke, und einiges davon wurde bereits auf dem Tisch hin- und hergereicht (an dem wundersamerweise Kekse und Heißgetränke erlaubt waren, sonst wäre ich eingegangen, vielen Dank dafür!). Es war diese leise brummende, geschäftige Stimmung im Raum, Ihr kennt das. Der Versuch, eine größere Diskussion zum Thema „was sind die maßgeblichen Werktitel“ zu starten, versickerte im Ansatz, nachdem sich auch Udo Garweg, Leiter der Bibliothek, kurz dazu geäußert hatte. Die meisten waren bereits gedanklich ins eigene Thema eingestiegen. „Wo ist der zweite Band des Werkverzeichnisses?“ – „steht da wirklich ’Kirche’, wo eigentlich Frederic Edwin Church gemeint ist?“ – „kann ich noch mal Band 3 haben?“. Zwischendurch verzogen sich einzelne mit Udo Garweg in die Regalreihen, um spezielle Literatur zu finden oder zu beraten, wo man noch etwas zu einem bestimmten Thema finden könnte. Bei der Führung durch die Ausstellung konnte eine emotionale Beziehung zu einzelnen Werken aufgebaut werden. Mein persönliches Highlight kam am Nachmittag, als ich mit Hilfe von Benutzer:Rlbberlin widerstreitende Provenienzangaben zu „meinem“ Bild auseinanderdröselte und wir feststellten, daß sich in dem maßgeblichen, dicken Dreibänder ein dicker Copy/Paste-Fehler eingeschlichen haben mußte. Puh …

„Ja, wir haben ein Qualitätsproblem – aber nicht bei den Artikeln, sondern in der Art, wie wir miteinander umgehen“ (Atamari)

Abends dann die Diskussion im Salon, wo unser Kollege, der die Veranstaltung in diesem Format für sich ablehnte, zu Wort kam. Ich ärgerte mich in einem Ausmaß, wie ich es von mir so nicht kenne (und habe das dann auch noch bei dem ansonsten sehr geschätzten Kollegen zum Ausdruck gebracht, nein, wir sind nicht böse aufeinander). „Hier sitzen die falschen Leute“ – „Du würdest ja auch keinen Artikel zu einem Medizinthema schreiben“ – „Kosten-Nutzen“ – „Lieber einen Neulings-Workshop machen“ – bei mir kam an: „Du hast keine Ahnung, was Du da tust, alles Dilettanten“.

Konzentriertes kollaboratives Grasen

Was war der Knackpunkt, der mich so aufgebracht hat? Ich glaube, der Standpunkt ist mir persönlich einfach zu elitär; ich empfinde ihn als zutiefst unkollaborativ. Ja, Enzyklopädie ist ein elitäres Projekt, aber wir sind als Gemeinschaftsprojekt angetreten, das Wissen zu befreien. Dazu gehört auch, daß wir unser womöglich unter Blut, Schweiß und Tränen (oder durch Privilegien) erworbenes Fachwissen nicht in der Schublade verstecken, sondern eben – teilen. Ein Themenbereich hat – vielleicht? – Qualitätsprobleme. Was tun wir, um diese zu beheben? Wir machen unsere Wissensschublade fest zu, tackern noch ein paar Nägel rein und sagen Interessierten: „hat ja keinen Zweck, bilde Dich erst mal“. Wir sind nicht bereit, unser Wissen mit solche Wikipedianerinnen und Wikipedianern zu teilen, die offenbar Interesse daran haben, auch wenn sie bisher noch nicht als Artikelschaffende in diesem Bereich aufgetaucht sind – wir geben ihnen nicht einmal eine Chance, indem wir uns das Ganze mal selbst ansehen und vielleicht ein einzelnes, verstecktes Talent aufspüren? So verbessern wir ganz sicher die Qualität in dem vernachlässigten Bereich!

Es gibt noch viel zu tun.

Beim Von der Heydt-Museum hat man hingegen die Chance genutzt: Wir haben an dem Wochenende gemeinsam so viel gelernt, so viel Wissen über Pissarro und den Impressionismus angesammelt, das wir jetzt teilen können. Und während der Woche, in der sich mein Artikelchen entwickelt hat, bläuten sich in jeder Vorschau um ihn herum so viele Links zu verwandten Themen, daß einem schwindlig werden konnte. Viel wichtiger noch alles das, was sich in unserem Kopf angesammelt hat und neue Synapsen bildet, die erst deutlich später zu einem Bild, zu Bildung und Wissen formen und damit schließlich – auch – Wikipedia zugutekommen. Ob Atamari plötzlich abenteuerliche Bildinterpretationen inklusive christlicher Ikonographie aus dem Hut zaubert, elya bei nächtlicher Lektüre Verbindungslinien zwischen Pissarro und dem neuen Houellebecq findet, oder sogar Dr. Beate Eickhoff, Kuratorin des Museums durch das Event etwas Neues zu tschechischen Impressionisten erfährt, über die Wikipedaner recherchiert haben.

„Der Dilettant übt eine Sache um ihrer selbst willen aus, also aus Interesse, Vergnügen oder Leidenschaft. Dabei kann er vollendete Kenntnisse und Fertigkeiten erlangt haben; […]“ (Wikipedia)

Viele Artikel in Wikipedia entstehen nach dem „Superbass“-Prinzip: „ich wollte schon immer mal wissen, was es mit … auf sich hat. Darum habe ich einen Wikipedia-Artikel geschrieben, und jetzt weiß ich es“. Merke: auch wenn Wikipedianerinnen und Wikipedianer etwas lernen, zählt das zur Befreiung von Wissen. Ich bin überzeugt: mit offenen Augen, etwas Interesse, gutem Willen und Zugang zu guten Quellen kann jeder von uns einen ordentlichen Artikel zu fast jedem Thema schreiben. Wir machen das zu einem großen Teil schon bald 10 Jahre und mehr, ein Journalist lernt das in deutlich kürzerer Zeit. Und ja, ich habe noch mal drüber nachgedacht: ich könnte mit entsprechendem Zugang zu Quellen und ansprechbaren Fachleuten auch einen Medizinartikel schreiben, wenn es mich wirklich interessieren würde. Wikipedia-Artikel müssen für durchschnittlich gebildete Menschen konsumierbar sein, und die Kompetenz eines guten Wikipediaautors liegt auch darin, Wissen so aufzubereiten, daß es für diese Gruppe verständlich ist. Das gelingt einem „Dilettanten“ oft besser als einem Spezialisten.

Und immer entspannt und würdevoll bleiben.

Ich möchte noch etwas weiter gehen: Auf einem Event wie in Wuppertal, bei dem ein vergleichsweise schmaler Themenbereich (hier: Camille Pissarro) fokussiert für Wikipedia beackert wird, will ich noch viel mehr Community-Menschen sehen, die gerade nicht unbedingt „Artikel zu Kunstwerken“ schreiben wollen. Ich will Schreibende, Commons-Kategorien-Verrückte, Wikidata-Nerds, Listenfreaks, Leute, die das Event fotografisch dokumentieren und vieles mehr. Wir lernen alle zusammen etwas dazu, und am Ende ergibt sich ein rundes Bild, in unseren Köpfen und in Wikipedia. Und ein solches Event bietet die Chance, wieder einmal als kollaboratives Projekt anzutreten. Danke dafür und mehr davon!

tl;dr: Wikipedia ist ein kollaboratives Enzyklopädie-Projekt, das Wissen befreien will. Dazu gehört auch, daß Wikipedianer ihr Wissen mit anderen Wikipedianern teilen.

5 Kommentare

  1. So lange solche Artikel durchgehen, dann muss man am Format wirklich zweifeln: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Kopiersperre/Pissarro-Katalog. Auf die Kritik wurde nicht eingegangen, der Benutzer reagierte nicht einmal auf die Rückverschiebung in den Benutzernamensraum. Die Kosten-Nutzen-Frage müsst ihr euch dann schon gefallen lassen. Wenn den Artikel jemand aus den Institutionen mitbekommt, dann können wir von der Reputation her einpacken. Und die erarbeitet sich der Fachbereich hart. Einem meiner Museumskontakte kräuseln sich die Fingernägel schon bei so etwas: https://de.wikipedia.org/wiki/Studie_eines_Bauernm%C3%A4dchens_beim_Umgraben#Format.2C_Technik.2C_Ausstellung_und_Provenienz. Was soll das für ein Abschnitt sein? Format und Technik sind Teile der Bildbeschreibung. Was sie in einem Abschnitt mit der Provenienz zu suchen haben, weiß wohl der helle Geist des Autors allein. Gemeinhin nennt man so etwas Murks. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass auch einige gute Artikel entstanden: Achim Raschka, Rlbberlin und auch du, ihr versteht ja euer Handwerk. Und dennoch, am Ende muss die Kosten-Nutzen-Frage gestellt werden. Der Autor, der sich irgendwann mal Pissarro wirklich annimmt, wird eher wenig amüsiert sein, was in dem Feld nun auch teils an qualitativen Tretminen liegt.

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    1. Also wenn ich das lese vergeht mir mal wieder jeder Wille etwas in dem Bereich zu machen, da man den überbordenen Ansprüchen einiger Weniger ja eh nicht gerecht werden kann. Für einen normalen Leser, der nicht im Hauptfach im Hauptstudium Kunstgeschichte studiert ist “Studie eines Bauernmädchens beim Umgraben” nämlich völlig OK! Und ich muß mich wirklich fragen, ob ich es wirklich will, daß sich dann Jemand “Pissaro annimmt” und das vielleicht unlesbar macht.

      Danke an den Blogbeitrag, ich sehe das ähnlich.

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    2. “So lange solche Artikel durchgehen” ist eine (bei der anscheinend allumfassenden Kenntnis des Kritikers sicher vorsätzliche) Desinformation. Der Artikel ging ja eben nicht “durch”, sondern wurde in weniger als 24 Stunden nach Erstellung aus dem Artikelnamensraum entfernt.

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    3. Nur kurz zur Verschiebung und Nichtreaktion: Die Verschiebung wurde mit dem Nutzer vor Ort noch abgestimmt, entsprechend bedarf es keiner sichtbaren Reaktion. Mittlerweile ist ein neuer Ansatz eines Pissarro-WVZ in Arbeit – ich bin gespannt auf den Fortschritt.

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  2. Danke für diesen Blog-Beitrag – an diesem Wochenende und im Vorfeld habe auch ich einiges gelernt, und zwar nciht nur über Pissarro sondern eben auch über eine notwenige Rückbesinnung auf den Wert der gemeinsamen Arbeit, allerdings ohne den Qualitätsgedanken aus den Augen verlieren zu wollen. Du beschreibst sehr schön, wie das gehen kann und sollte und ich bin gern dabei, ein paar weitere Experimente dieser Art zu erleben.

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